Gender, das Schreckgespenst der Sprache.
Gerade wieder auf LinkedIn einen Post gelesen eines massiv empörten Mannes, der das Gendern als Indoktrination empfand.
Für ihn gab es keine Frage, es gibt Mann und Frau und Schluß.
Gendern egal wie nennt er behindertenfeindlich und eine Zumutung, Indoktrination, er verglich es sogar mit den Reden Göbbels.
Zuerst hab ich noch mitdiskutiert, also nachdem ich mir von Chattie seine ganzen hochtrabenden Wörter hab übersetzen und in Kontext packen lassen.
Ich bin nach einer Weile ausgestiegen, es ging nicht mehr um Argumente, nur ums Recht haben.
Da ich nicht nachvollziehen kann, weshalb er und noch ein paar Männer, wegen etwas was sie ja nicht zwingend tun müssen, dermaßen an die Decke gehen, hab ich mal wieder recherchiert, viel gelesen und überlegt.
Wieso ist Gendern, das Schreckgespenst der Sprache, so schlimm?
Erst mal die ursprünglichen Argumente aus dem Post, warum Gendern so schrecklich ist.
Ehrlich, je öfter ich diesen Post und die Kommentare lese, desto klarer wird mir eines: Hinter diesen Sätzen steckt weniger Wissenschaft als Verunsicherung.
Fremdwörter verleihen seinem Text einen Anschein von Gewicht, trotzdem bleibt für mich die Frage, was macht diese kleine sprachliche Veränderung so bedrohlich?
Sprache ist weder neutral noch unveränderlich.
Jahrhunderte lang war „der Mann“ die Norm. Frauen waren mitgemeint, andere Identitäten waren unsichtbar. Sie waren aber immer da!
Was passiert jetzt, wenn Frauen, nicht-binäre und trans-Menschen sprachlich sichtbar werden? Dann verschiebt sich etwas in unserer Wahrnehmung. Und jede dieser Verschiebungen kratzt an liebgewordenen Gewohnheiten.
Ja das ist durchaus eine Art Machtverlust, Männer sind nicht mehr automatisch die Default-Kategorie. Kann ich verstehen, dass das irritiert.
Es ist möglicherweise auch eine Identitätsangst, das eigene Selbstbild kann wanken, wenn so wichtige Dinge wie Mann/Frau nicht mehr sauber in die vorgesehenen Schubladen passen.
Es kann natürlich auch die Angst sein, seinen Status irgendwie zu verlieren. Die Aufmerksamkeit wird geteilt, das fühlt sich vielleicht an wie Verlust.
Und Vielfalt ist komplex, das ist anstrengend und überfordert bestimmt auch viele Menschen. Gendern macht diese Vielfalt halt sichtbar.
Dann stimmt das Weltbild nicht mehr, muss angepasst werden an Dinge die einem sehr fremd sind.
Für viele ist das ungewohnt, das fühlt sich schnell bedrohlich an. Zugegeben, ich stolper auch immer wieder drüber oder vergesse es.
Was selten benannt wird: Angst vor dem eigenen Begehren
Die Psychologie kennt das Muster, bewiesen durch viele viele Studien:
Männer, die besonders laut homophob sind, ringen oft mit ihrer eigenen Identität. Nicht selten zeigen dann genau diese Männer, die Homosexuelle so offen und aggressiv verachten, sehr starke Reaktionen auf gleichgeschlechtliche Reize

Übertragen auf Gender und Trans könnte das heissen:
Was, wenn eine Frau attraktiv wirkt, und erst später erfährt Mann, es war einmal ein Mann.
Oder wie in Thailand, die Ladyboys, die ein normaler Teil der Gesellschaft sind. Dort sind die Geschlechtergrenzen erheblich fließender.
Was, wenn das eigene Begehren plötzlich nicht mehr eindeutig in die alte Schublade passt?
Angst und Scham spielen da zusammen. „Was sagt das über mich?“
Und weil Scham schwer auszuhalten ist, wandelt sie sich in Wut.
Wut ist lauter als Unsicherheit.
Nicht binär ist wirklich nichts neues
Vielfalt ist kein Modephänomen, das gab es schon immer und überall.
Ja selbst in der europäischen Sprache wie zum Beispiel im Englischen: das Singular-They gibt es schon seit dem 14. Jahrhundert. Shakespeare nutzte es, Chaucer auch. Die Vielfalt in der Sprache ist alt, sie wurde nur vor allem in Europa vergessen (oder unsichtbar gemacht). Ja der alte Shakespeare: Beispiele aus Shakespeare
The Comedy of Errors (1594)
“There’s not a man I meet but doth salute me As if I were their well-acquainted friend.” → „Man“ ist Singular, aber Shakespeare setzt their ein, nicht „his“.
Hamlet (1600/01)
“’Tis meet that some more audience than a mother, Since nature makes them partial, should o’erhear The speech, of vantage.” → „a mother“ = Singular, Pronomen them.
A Winter’s Tale (1611)
“Every one to rest themselves betake.” → „Every one“ ist Singular, Pronomen themselves.
Ein binäres Weltbild ist also eben nicht total natürlich. Es ist eine Konstruktion, und die können halt wackeln.

Wieso verschwand die Vielfalt aus unserer Sprache?
Kirche & Kolonialismus
dürfte jetzt nicht groß überraschen, mit der Christianisierung kam ja immer stärker die Vorstellung von klarer, göttlicher Ordnung:
Mann/Frau, Adam/Eva, gut/böse. Alles dazwischen galt als Sünde oder Widernatur.
Kolonialmächte exportierten dieses Weltbild und zerstörten gezielt indigene Rollen wie bei den Two-Spirit oder Hijra, die bis dahin selbstverständlich waren.
Es ging also mal wieder um MACHT
Die Wissenschaft im 18./19. Jahrhundert
Biologie und Medizin wurden normativ: Geschlecht = Chromosomen, Körper = Binär
Alles was da nicht reinpasste wurde pathologisiert, war eine Abweichung, eine Störung, eine Missbildung, Abnorm.
Die Sprache folgte dieser Reduktion, auch wenn relativ schnell klar wurde, so einfach ist die ganze Sache nicht.
Sprache als Machtschutz
Der Sprachpurismus z.B. im Englischen, da haben Grammatikreformer im 18. Jahrhundert, das seit dem Mittelalter gebräuchliche Singular-They zu verbieten.
Statt dessen setzten sie das „he“ als Standard durch, angeblich „logisch“, tatsächlich ein Machtschutz für das Männliche als Norm.
Im Deutschen war es ähnlich, das generische Maskulinum wurde als „einfacher, klarer, korrekter“ definiert, obwohl neutrale Formen vorhanden waren.
Wozu das alles?
Macht und Kontrolle, ganz schlicht und einfach.
Wer die Ordnung bestimmt, definiert auch Zugehörigkeit, Rechte und Teilhabe.
Komplexität macht Kontrolle schwieriger, schwarz/weiß ist einfach.

Sprache wurde zur Waffe, wer nicht passte, wurde unsichtbar gemacht, erst sprachlich, dann gesellschaftlich.
Die imperiale Sprachpolitik zielte auf Assimilation (wieso muss ich da jetzt an die Borg denken?),
Kolonisierende Mächte ersetzten lokale Sprachen durch Europäische.
Lokale Identitätsbegriffe, Kulturen und Religionen wurden so marginalisiert oder unsichtbar gemacht.
In Afrika, Asien und Lateinamerika galt: Wer die Sprache verlor, verlor Kultur und die Möglichkeit eigene Identitäten sichtbar zu machen.
Was genau ist jetzt eigentlich das Problem beim Gendern?
Jetzt mal angenommen, nur mal angenommen, es gäbe wirklich nur zwei Geschlechter, ja ich weiß ist nicht so aber mal angenommen. Über das Thema Gleichberechtigung, wer ist was und Geschlechter habe ich auch hier schon geschrieben.
Selbst dann wäre es doch nur gerecht wenn beide Geschlechter nicht mitgemeint werden sondern angesprochen.
Es ist ja mehr als erwiesen, dass unser Gehirn fast nur männliche Ergebnisse bringt, wenn wir zB. vom Lieblingskünstler, Lieblingsmusiker oder Lieblingsmaler sprechen.
Allein deshalb find ich gendern schon notwendig.
Am Ende steh ich aber immer noch mit der Frage da: Was genau ist so bedrohlich am Gendern? Dass andere Menschen sichtbar werden? Dass Sprache lebendiger wird, oder dass die Komplexität der Welt sichtbarer wird.
Gendern ist optional, wie Koriander oder Brokkoli, manche mögens, andere halt nicht. Niemand muss es essen.
Die ganze Aufregung verrät mehr über die, die sich so drüber aufregen als übers Gendern selbst.
Vielleicht ist die wahre Bedrohung ja weniger das Gendersternchen, sondern die Angst, dass das eigene Weltbild zu klein geworden ist?
Also wo ist das Problem?

Ich hab die große Aufregung darum immer noch nicht kapiert, vielleicht kann es mir ja jemand erklären
Bis neulich
Toni vom Café Ruhepol